Wer in diesen Wochen die Nachrichten aus dem In- und Ausland verfolgt, kann den Eindruck gewinnen, dass ein Kampf um die Vorherrschaft von freien Bürgern gegen politische Possenspieler ausgebrochen ist. Es scheint, als sei Partizipation durch Protest auf dem Vormarsch und die einzig noch valide Methode für die Menschen auf den Straßen Kiews und in Caracas, um ihren politischen Willen auszudrücken. Ob in der Ukraine, in Venezuela oder anderswo - der Unmut der Bevölkerung gilt stets einem ähnlichen Thema: der Korruption der politischen Klasse, die sich den Demonstranten zufolge im Abwirtschaften des Landes, in hoher Arbeitslosigkeit oder weit verbreiteter Kriminalität ausdrückt.
Ukraine
Nach anhaltenden Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew überschlagen sich die Ereignisse in der Ukraine seit letzter Woche: erst unnötiges Blutvergießen, dann eine Art parlamentarischer Staatsstreich. Seit Monaten nutzt ein Teil des Landes den öffentlichen Protest als Mittel, um für eine Anlehnung an die EU und europäische Werte, gegen Korruption und vor allem den Vorsitzenden aller politischen und Oligarchen-Verwicklungen anzukämpfen: (den inzwischen flüchtigen Ex-)Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Obwohl scheinbar erfolgreich, bleibt die Zukunft dieser Form der Partizipation ungewiss – nicht nur aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme und potenzieller geopolitischer Machtspiele zwischen Russland und dem Westen (interessant hierzu auch die Perspektiven Russlands und so mancher US-Politiker), sondern vor allem weil sie nicht alle Ukrainer und deren Erwartungen mitnimmt. Aufgrund der gespaltenen Meinung im Land wird mit Spannung erwartet, wie Übergangsregierung und Oppositionsführer mit der Vielfalt der Meinungen und dem jetzt herrschenden Machtvakuum umgeht.
Venezuela
Ganz im Gegensatz zur omnipräsenten Berichterstattung aus der Ukraine, scheint Venezuela auf der Liste der internationalen Medienvertreter fast vergessen. Schon seit knapp zwei Wochen protestieren zunächst Studenten, nun ganze Städte gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro. Von einem Machtvakuum kann hier allerdings keine Rede sein: Folgt man dem Geschehen in sozialen Medien und auf OpEd-Plattformen, dann bekommt man den Eindruck, Präsident Maduro setze den Protestanten jedes nur denkbare Mittel entgegen, um die Situation in den Griff zu kriegen – vom angeblichen Abschalten des Internets in Städten und Landstrichen über die Verbannung von drei US-Journalisten bis hin zum Einsatz bewaffneter Sicherheitspolizisten. “I’m ready to declare it [a state of exception] and send in the tanks, the troops, planes, all of the military force of the country,” soll der Präsident selbst gesagt haben. Aufgrund der medialen Abschottung, fällt es schwer, den Überblick zur Situation in Venezuela zu behalten. Soziale Medien geben hier nur eine Seite der öffentlichen Meinung wieder.
Bereits eher diesen Winter: Proteste auch in Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Thailand und der Türkei
Bereits zum Monatsanfang machten Proteste in Bosnien Schlagzeilen, wo Menschen gegen hohe Arbeitslosigkeit, niedrige oder keine Löhne, Korruption, und einen übergroßen Staatssektor auf die Strasse gingen (mehr Hintergrund von unserem Kollegen Jan vor Ort).
Bulgarien befindet sich gleich mal in einer Art Dauerprotestzustand: Immer wieder gehen vor allem junge Demonstranten auf die Straße, um ihrem Unmut mit der politischen Klasse und anhaltender Korruption Ausdruck zu verleihen. Schaut man zurück, bleibt es allerdings zweifelhaft, wie erfolgreich die Rufe der Demonstranten sien werden: Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Mai letzten Jahres stimmten gerade einmal 52.5% der Bulgaren mit ab.
Auch in der Türkei und in Thailand wurde kurz vor dem Jahreswechsel abermals demonstriert und in Rumänien darf man mit Spannung verfolgen, wie sich die übrigbleibende Regierung nach dem Auseinanderbrechen der Koalition gegenüber ungeduldigen Bürgern zu beweisen wissen wird.
Die zwiespältige Rolle sozialer Medien und die wachsende Anzahl der Protestbewegungen
Während Protestbewegungen zweifellos zu politisieren wissen, muss man sich fragen, ob die Welt in den letzten Jahren so enorm politisch auseinander gewachsen ist, oder ob der Eindruck von einer Mehrung der Protestbewegungen täuscht. Eine interessanter und vielbehandelter Gedanke hierzu gilt der Rolle sozialer Medien: Diese können einerseits mit einer relativ kleinen Basis von fanatischen Postern einen falschen Eindruck der öffentlichen Meinung generieren, diese aber auch künstlich verstärken und so Protestbewegungen weiter anfeuern.
Und in der Zwischenzeit in Deutschland?
Während die Menschen in Kiew und Caracas auf die Straße gehen, zeigen sich die deutschen Bürger eher genervt vom ewigen Politspektakel. Das Politbarometer bestätigt der großen Koalition bereits in der ersten Amtsperiode einen deutlichen Vertrauensverlust, zuletzt angefeuert durch die Affäre #Edathy.
Dafür kann in Deutschland derzeit von einem Machtvakuum keine Rede sein, eher vom Gegenteil. Das neu zusammengesetzte Parlament hat gleich mal in Rekordzeit die Erhöhung seiner eigenen Abgeordenetendiäten beschlossen. Ist doch schön, wenn Demokratie so einfach ist.
Photo Credit: 'Protesters in Ukraine climbing a crane for better view' Ivan Bandura (mac_ivan/flickr)